Viktorianischer Stil
Angekommen am Schauplatz des letzten Olympia-Qualifikationsturniers
Nach anderthalb Stunden Bootsfahrt von Vancouver aus entlang einer malerischen Wasserstraße quer durch die Southern Gulf Islands gelangt der gewöhnliche Tourist oder Hockeykolumnist auf die Insel Vancouver Island. Wenn sie Glück haben, können sie dabei auch Wale erspähen, mit sehr, sehr viel Glück, aber die vielen Seehunde sind durchaus eine willkommene Entschädigung. Am Fährenterminal angekommen zieht es beide zunächst an den südlichen Zipfel der 450 Kilometer langen Insel, in die Provinzhauptstadt Victoria, die neben traditionellen Häusern und lebendigen Bars seit heute auch mit dem letzten der sechs olympischen Qualifikationsturniere für Peking aufwartet.
Auf dem Universitätscampus im Norden der Stadt bauten die Veranstalter zu diesem Zweck sogar ein kleines Hockeydorf auf, eigens für das Turnier wurden Tribünen für rund 1.500 Hockeyfans aufgestellt und in der hockeyfreien Zeit können diese über den überdachten Hockey-Marktplatz schlendern, sich kulinarisch verköstigen oder das neuste Equipment erwerben. Man kann wirklich nicht sagen, dass die drei Herrenqualifier, die ich bislang erleben durfte, in irgendeiner Weise schlecht organisiert und umrahmt (siehe Anden- und Kirschblüten-Kulisse) waren, aber das Damenturnier in Kanada setzt dem Ganzen noch die Krone auf: Die Organisatoren konnten sich vor freiwilligen Helfern nicht retten, es wurden am Ende über 300 Volunteers, die sich in einer für sie eingerichteten Lounge auch entspannen können – es ist eine ganze Turnhalle!
Presskonferenzen werden in einem Hörsaal mit mehreren Hundert Sitzplätzen abgehalten, die Bushaltestelle ist direkt neben dem Eingang zur Anlage (eine Rarität unter guten Hockeystadien) und es gibt Wireless LAN auf den Tribünen - man könnte noch ewig so weiter machen. Dass das Ganze auch seinen Preis hat, bekommen die Zuschauer zu spüren, die für einen Turnierpass 94 bis 250 kanadische Dollar (rund 60 bis 160 Euro) hinlegen müssen, während die Turniere in Neuseeland und Japan wesentlich billiger waren bzw. wie das Turnier in Chile überhaupt nichts kosteten.
Nur gut, dass sich die kanadischen Hockeyfans davon nicht abschrecken lassen, wovon die Schlangen vorm Tickethaus zeugen. Grundsätzlich hat Feldhockey in dem bitterkalten Eishockeymekka natürlich schwere Karten – wenn man davon erzählt, dass man ein „Feldhockey-Turnier“ besucht, sagt man besser, man besuche ein „Feld-und-nicht-Eishockey-Turnier“, sonst kann es leicht zu Verwirrungen kommen. Ein anderes Beispiel: die Stadionsprecherin schickte die gelb verwarnte Spielerin für ganz genau zwei Minuten vom Spielfeld – der Schatten des großen Eishockeybruders ist allmächtig. (In Japan wurden die Spielstände durch die Lautsprecher übrigens immer in Punkten angegeben, „Vier Punkte Deutschland, 0 Punkte Japan“ – Baseball lässt grüßen).
Dass sich nun in British Columbia, der südwestlichsten Provinz Kanadas, in der Victoria liegt, auch Hockey ohne Puck und auf Rasen durchsetzen konnte, hat einen sehr einfachen Grund: Hier ist es wesentlich wärmer als im Rest des Landes (worüber die malaysischen Hockeyspielerinnen nur müde lächeln können). In den kanadischen „Tropen“ spielen demzufolge zwischen 90 und 95 Prozent aller aktiven Feldhockeyspieler der gesamten Nation, allein in Victoria versammeln sich sieben verschiedene Clubs. Nun erstaunt es auch nicht, dass 12 von 18 Spielerinnen der Nationalmannschaft aus British Columbia stammen, ganze drei direkt aus Victoria, die in ihrem Wohnzimmer natürlich auf große Unterstützung seitens ihres Familien- und Freundeskreises bauen.
Sally Bell, ihre Trainerin, sieht in diesem Heimvorteil auch die große Chance des Gastgeberteams, die als 23. der Weltrangliste eher Außenseiterchancen auf das Peking-Ticket haben, das die starken Koreanerinnen bereits seit Monaten vorbestellt zu haben scheinen. Sie schlugen nicht nur in Neuseeland die bereits qualifizierten, wenn auch noch nicht ganz fitten Gastgeber eindrucksvoll in einer Testserie, sondern gewannen auch am ersten Turniertag in Kanada deutlich mit 10:0 gegen Uruguay, das zu keiner einzigen Torchance kam.
Gefährlich werden könnten ihnen allerdings die Irinnen, die heute mit 3 geschossenen und rund 33 verpassten Toren gegen Malaysia die ersten Früchte ihrer unglaublich intensiven Vorbereitung ernteten. Die Kanadierinnen mussten sich trotz ansprechender Leistung in der zweiten Begegnung des Tages Italien nur knapp mit 2:1 geschlagen geben – doch am Spielfeldrand erwartete sie bereits eine Hundertschaft an Freunden, denen sie nach dem Spiel in die Arme fielen.
Charlotte Geiger
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